Tuesday, January 31, 2006


Bilder von Sulamay

Bolong die Regenbogenschlange

In der Traumzeit zog Nagacork, der Schützenfischahne, durch den Norden Australiens. Am Flying Fox River schuf er ein großes Wasserloch, das Talawung heißt, und bevölkerte es mit seinen Geschöpfen.

Als Nagacork von einer langen Wanderung nach Talawung zurückkehrte, sah er über den dicken Pandanuspalmen und Papierrindenbäumen am Ufer den Rauch vieler Kochfeuer. überall waren die Geräusche von Menschen zu hören, die unter den schattigen Baumkronen lagerten. Junge Männer gingen auf Fischfang mit ihren kurzen Speeren, während Frauen und Kinder den schlammigen Fußboden nach Muscheln und saftigen Wasserlilienknollen absuchten. Fröhlich schwatzend schoben die Sammlerinnen ihre bootsförmigen Coolamons einander zu, schwimmende Holzschüsseln, die zum Sammeln der Nahrung dienten.

"Komm her, Alter", riefen die Männer Nagacork schon von weitem entgegen. "Iß mit uns, es ist genügend für dich da."

Nagacork gab keine Antwort. Schweigend ging er am Fluss entlang und hielt Ausschau nach den Fischen, die er dort zurückgelassen hatte. Als alles Suchen vergebens war, kehrte er um. Aufgeregt kamen die Jäger herbeigelaufen und deuteten in das trübe Wasser.

"Sieh nur, sind das die Fische, die du suchst?"

Andere wateten durch den Fluss und trieben die verängstigten Tiere laut schreiend gegen das Ufer, doch der Alte schüttelte jedes Mal stumm den Kopf.

Auf dem Rückweg machte Nagacork eine seltsame Entdeckung. Scharen roter Ameisen krabbelten den Stamm eines Eukalyptusbaums entlang, bis sie hoch oben in einem großen Astloch verschwanden. Ohne zu zögern kletterte er hinterher und starrte durch die dunkle Öffnung. Im hohlen Baumstamm lagen die abgenagten Skelette vieler Schützenfische.

Nagacork stieg hinab und ließ sich unter einer Gruppe Pandanuspalmen nieder. Traurig saß er am Boden, den müden Kopf auf die Knie gelegt. Dann stimmte er den uralten Beschwörungsgesang an, der Kurrichalpongo, die schwarze Felsenschlange, herbeiruft. Weithin erklang das eintönige Lied durch den Busch.

"Ich sehe die große Schlange aus den nördlichen Bergen hervorkommen", meldete wenig später Datat, der grüne Papagei, der auf einem hohen Papierrindenbaum saß. Nagacork hob den Kopf. Am wolkenlosen Himmel wölbte sich ein mächtiger, bunt schillernder Regenbogen über die Welt.

Kurrichalpongo aber wanderte unter der Erde nach Talawung. Dort bohrte sie ein tiefes Loch in das Ufer, aus dem reißende Fluten hervorbrachen. Voller Entsetzen versuchten die Menschen zu fliehen, doch in wenigen Augenblicken hatten die schäumenden Wogen das ganze Gebiet überschwemmt und alles Leben unter sich begraben.

Viele Menschen wurden damals in Vögel verwandelt, die mit rauhem Gekrächze durch die Lüfte flatterten. Andere erhielten die Gestalt von Schildkröten und entgingen auf diese Weise dem Verderben.

Kurrichalpongo legte ihre Eier in das Wasserloch, aus denen junge Regenbogenschlangen schlüpften, die nach allen Richtungen davon krochen. Manche der Eier verwandelten sich in Steine, wie sie noch heute in Talawung zu sehen sind.

Die große Schlange zog weiter. Ihre Spur grub einen tiefen Fluss in den trockenen Boden, gesäumt von Bäumen und Schilfgewächsen. Überall glänzten schattige Wasserlöcher in den hellen Strahlen der Sonne. Auf ihrer Fährte bildeten sich Berge und grünendes Buschland.

Am Rande der Waarlook-Narlookebene kämpfte Kurrichalpongo mit Kandagun, dem räuberischen Dingo. Als der Gegner vertrieben war, fiel sie in einen tiefen Schlaf und machte im Traum den bitteren Yams, der seitdem in dieser Gegend wächst. Dann ging die Reise nach Luralingi, das am Hodgson River liegt.

Hierher waren zwei junge Frauen vom Stamm der Marambella vor ihren Männern geflüchtet und hatten sich den beiden Söhnen Nagacorks angeschlossen. In hohlen Baumstämmen entdeckten sie vier junge Regenbogenschlangen, die sie erschlugen und dem Alten brachten. "Dafür werdet ihr sterben", murmelte er düster, "denn ihr habt die Nachkommen der großen Schlange getötet."

In Luralingi angekommen, verwandelte sich die grimmige Kurrichalpongo in Bolong, die mächtige Regenbogenschlange. Dabei ließen gewaltige Donnerschläge die Erde erzittern. Vielzackige Blitze schossen über den nachtschwarzen Himmel und spalteten ganze Berge, die mit ungeheurem Getöse auseinanderbrachen und die Frevler unter riesigen Gesteinsbrocken begruben. Schwerer Regen prasselte hernieder, heulende Stürme knickten die stärksten Bäume wie dürre Grashalme und peitschten reißende Flutwellen vor sich her, die alle Stämme der Umgebung ertränkten.

Bolong setzte die Wanderschaft fort. Aus ihrem fruchtbaren Leib strömten Tiere und Pflanzen, auf dem Weg erschuf sie Berge, Ebene, Sümpfe und Wasserlöcher. In Moorinjairee traf sie schließlich den alten Nagacork, zusammen mit vier anderen Regenbogenschlangen.

Sie hielten eine lange Beratung ab und veranstalteten einen großen Corrobore, auf dem neue Tänze eingeführt wurden; dann verwandelten die mächtigen Ahnen Tiere in Menschen.

Zuletzt verschwanden die Regenbogenschlangen in der Erde, wo sie am Grund der tiefen Wasserlöcher unablässig neues Leben hervorbringen. An diesen Orten wohnen auch die Kindkeime, die in den Schoß der Frauen eindringen, um als Menschen wiedergeboren zu werden.

Nagacork aber zog ein letztes Mal durch die Jagdgründe der Stämme. Er besuchte die Menschen, Tiere und Pflanzen, dazu sang er sein Abschiedslied, denn er war alt und müde geworden:

"Allo allo allo allo allo

Cha nallah wirritt burra burra

Cubrimilla cubrimilla bo bo."

Das bedeutet:

"Lebt wohl, ihr Geschöpfe,

Für immer verlasse ich euch,

Doch alle Zeit will ich über euch wachen."

Und Nagacork stieg zum Himmel empor, wo er zwischen den Gestirnen seinen Wohnsitz nahm. Der Sternenstrom aber, den die Weißen Milchstraße nennen, ist der Rauch von Nagacorks Lagerfeuer, wie er über das nächtliche Firmament zieht.

Märchen der australischen Ureinwohner, 13367, Fischer Taschenbuchverlag 1999, Hsg. Herbert Bolz

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