Monday, January 16, 2006

Illustration von Jean Fullalove (zu: Die Katze,die ins Haus kam)

Die Mutter, die zu Staub zerfiel


Dieser moderne Schöpfungsmythos aus Malawi, verfasst von dem Kinderbuchautor und Märchenerzähler Kasiya Makaka Phiri, erinnert uns daran, wie wertvoll Mutter Erde ist.

Vor langer, langer Zeit hatte die Sonne eine Tochter. Ebenso wie ihre Mutter war auch sie ein Stern von großer Leuchtkraft und lebte im größeren Glanz der Sonne. Ihre Schuhe waren aus schimmerndem Sternengefunkel, und an den Fingern, um die Knöchel, Handgelenke und den Hals trug sie Sternschnuppen-Diamanten. Sie strahlte ganz hell und erleuchtete den leeren Raum jenseits der Sonne, den man den Himmel nennt. Über diesen herrschte sie mit großer Weisheit, Liebe und Barmherzigkeit.

Eines Tages, als sie ihre Runden machte, um die unzähligen Gestirne des gewaltigen Universums zu zählen, sah sie im äußersten Winkel einen Planeten. Er war so weit entfernt, dass die Sonne ihn schon fast nicht mehr zu erreichen vermochte. Seine Farben umfassten sämtliche Schattierungen von Grün und Blau. Die Sonnentochter schaute noch einmal, dann sprach sie zu ihrer Mutter:

„Dort auf diesem Planeten soll mein Thron sein. Ich möchte mein Leben in der Üppigkeit des Grüns und in der Kühle des Blaus verbringen.“

Die Sonne seufzte. Sie betrachtete den großen Glanz ihrer Tochter und seufzte noch einmal. Ihre Augen konnten über viele Jahre hinaus in die Zukunft blicken.

„Alles ist deins“, sagte sie schließlich. „Du kannst gehen wohin immer du magst. Du kannst tun, was immer dir beliebt. Doch wisse eins: Du musst dich von nahezu allem trennen, was du an Kräften besitzt, und es hier zurücklassen. Deinen strahlenden Umhang aus reinem Licht, deine Schuhe aus Sternengefunkel, deine Fußketten, Armreifen und Halsbänder mit de m Glitzern des Abendsterns und des Morgensterns – das alles darfst du nicht mitnehmen. Das zarte Grün auf dem Planeten könnte nie die Hitze deiner Helligkeit ertragen, und das Blau würde völlig vertrocknen. Doch im Tausch für deinen strahlenden Schmuck hast du drei Wünsche frei, die dir bedingungslos erfüllt werden sollen.“

„Gut“, sagte ihre Tochter, “ich werde es mir überlegen.“

Sie grübelte Jahre um Jahre. Denn so ist es nun mal mit den Sternen und der Sonne im weitern Universum: Alles dauert Jahre um Jahre, aber für sie ist es nicht mehr als ein Wimpernschlag. Schließlich hatte sie genug nachgedacht und war zu einem Entschluss gekommen.

Sie willigte ein, ihren Umhang abzulegen, ihr Morgendämmerungsgewand zurückzulassen, ihre Schuhe aus Sternengefunkel, ihre Sandalen aus Zwielicht und ihre Pantoffeln aus Abendrot. In strahlendem Glanz übergab sie alles der Sonne. Dann sagte sie: „Jetzt gehe ich zu dem grünen Planeten und werde seine Mutter sein.“

„Nimm alles mit, was du brauchst. Wisse, dass du uns hier sehr fehlen wirst“, sagte die Sonne. “Ich fürchte unser grelles Leuchten wird dir auf diesem kleinen Planeten in deiner neuen Gestalt nicht immer angenehm sein.“

Die Ringe, Fußketten, Armreifen und Halsbänder wurde rings um die Sonne in einem Schweif aus Sternen, Sternengefunkel, Glitzerstaub und Funken über den Himmel ausgebreitet und zu einer milchigen Bahn angeordnet, die vom grünen und blauen Planeten aus zu sehen war. So würde die Sonnentochter sich stets daran erinnern, woher sie einst gekommen war.

Dann machte sie sich auf den Weg. Zuerst reiste sie auf einer Sternschnuppe, die durch Zeit und Raum raste, später auf einem einzelnen Lichtstrahl, der sich im sanften Licht eines anbrechenden Morgens brach, doch ihr Ziel lag noch immer in weiter Ferne. Sie hatte allerlei Gerätschaften mitgenommen: eine Hacke, einen Mörser und einen Stößel, einen Getreidekorb, einen Wasserbehälter, einen Kochtopf, Teller aus Bambus und Holz, eine kleine Axt, eine Matte und ein großes Tuch zum zudecken. Den grünen und blauen Planeten erreichte sie schließlich auf dem ersten Lichtstrahl des neuen Tages.

Als sie landete, merkte sie, weshalb der Planet in der Weite des Himmels so grün ausgesehen hatte. Die Wälder und Wiesen waren so schön, dass ihr das Herz überging und es noch größer wurde, als es schon gewesen war. Liebevoll betrachtete sie all die Pflanzen, die unter ihren Augen glücklich gediehen und das Grün wurde sogar noch üppiger. Hier wuchsen Büsche, dort Bäume, und allenthalben prangten Blüten in den vielen Farben des Lichts, das mit ihr von so weit her gekommen war: Gelb, Orange, Purpurrot, Weiß, Rosa, Zitronengelb, Limonengrün, Himmelblau, Aquamarin und zahllose Zwischentöne und Schattierungen.

„Kinder, ich möchte Kinder haben. Viele, viele Kinder“, sagte sie. „Ich möchte Kinder, die lieben. Kinder, die durchs Gras laufen. Singende, lachende Kinder und Stimmen, die an den Berghängen widerhallen. Kinder, die ich zu mir rufen und liebkosen kann, und Kinder, die sich um mich kümmern, wenn ich als und hinfällig werde. Kinder, die mir Kraft geben, wenn ich schwach werde und ermattet vom Leben. Und Kinder, die mich, wenn meine Zeit gekommen sein wird, zur letzten Ruhe betten.“

Ihr Wunsch ging in Erfüllung, und sie hatte Kinder. Ja, Kinder gab es allüberall! Neben ihr, vor ihr, hinter ihr. Söhne gab es, die waren groß, geschmeidig und so stark, dass sie stundenlang auf einem Bein stehen konnten. Dann gab es gütige, freundliche Söhne voller Wärme und Anteilnahme auch für jene, die nicht so schnell laufen oder so lange stehen konnten. Töchter gab es, groß und stark wie ihre Brüder, die den ganzen Tag lang wie Gazellen springen und rennen konnten, ohne auch nur ein bisschen zu ermüden. Dann gab es Töchter, zart und lieblich wie Blumen, liebevoll wie Mütter, freundlich wie Brüder und gütig wie Väter. Sie alle scharten sich um die Sonnentochter und nannten sie Mutter.

Und so wurde der Stern, Die Sonnentochter, die mit unermesslicher Helligkeit am Himmel geherrscht hatte, zur Mutter aller Kinder des grünen und blauen Planeten.

Sie liebte sie alle und sorgte für jedes einzelne von ihnen. Für die großen und die kleinen Kinder, die dicken Kinder und die schlanken, die blassen und die blonden. Sie sorgte für sie alle, Tag und Nacht.

Es gab Kinder, die gingen nur und rannten nie, und Kinder, die rannten nur und gingen nie. Es gab Meins –Kinder, alles für sich haben wollten. Nichts -Kinder, die nie mehr als ein einziges Wort sagten: nichts. Es gab Komm –gleich –wieder –Kinder, die wie der Wirbelwind hin und her sausten. Ich –nicht -Kinder, die nie zugeben wollten, dass sie irgendetwas angestellt hatten. Weiß – nicht –Kinder, Der –hat –angefangen –Kinder, Selber –Schuld –Kinder, die niederträchtig und rücksichtslos waren, und noch viele, viele andere mehr.

Sie sorgte für sie und brachte ihnen Regen und Überfluss. Da sie die Gesetze des Himmels kannte, brachte sie ihnen auch Sonne und Wärme. Und wenn es Zeit war für die Pflanzen, sich auszuruhen, dann ließ sie Herbst und Winter kommen, und die Pflanzen schliefen ein.

Sie sorgte für die Kinder, egal, ob sie wach waren oder ob sie schliefen. Sie stand immer als Allererste auf. Mit einem großen Besen fegte und putzte sie, und schon in aller Frühe bearbeitete sie mit ihrer Hacke den Boden, um die Nahrung anzubauen, die die Kinder brauchten. Und obwohl sie unersättlich waren, gab es stets genug zu essen für sie nach all dem Rennen, Singen, Versteckspielen und den vielen anderen Dingen, die Kinder den lieben langen Tag so gerne tun.

Die Mutter aller Kinder war sehr stark, doch die Jahre lasteten auf ihren Schultern. Und die Kinder der Erde veränderten sich. Einmal beklagte sie sich bei der Sonne: „Sie sind alle so anders geworden. Ich bedeute ihnen nichts mehr. Ich frage mich, ob sie mich überhaupt noch sehen.“ Die Sonne antwortete: „Vergiss nicht, es sind deine Kinder. Sie haben nicht darum gebeten, auf die Welt zu kommen. Arbeite mit ihnen. Du wirst Schätze entdecken, dort, wo du sie am wenigsten erwartest, und dann, wenn du es am wenigsten erwartest.“

Und so arbeitete sie und diente ihren Kindern, die sich um Dinge zu streiten begonnen hatten. Anstatt sich gegenseitig zu helfen oder etwas für sich selbst zu tun, weinten sie nur immer und verlangten, dass sie für sie da war und ihnen ihre ganze Aufmerksamkeit widmete.

„ich hab Hunger – ich hab Durst – ich will dies, ich will das – trag mich, streichel mich. Du bist die Mutter, du hast uns in diese Welt gebracht. Kümmer dich um uns.“

Und die Mutter aller Kinder heilte Verletzungen und fütterte hungrige Mäuler und tränkte durstige Kehlen, und so reiften sie nach und nach zu erwachsenen Männern und Frauen heran. Sie zogen fort zu weit entfernten Orten, kehrten nur gelegentlich zurück und manchmal überhaupt nicht mehr. Inzwischen waren sie so niederträchtig und wild geworden, dass sie sich sogar gegenseitig umbrachten.

Kummer nagte der Mutter am Herzen. War sie einst groß und stolz gewesen, so war sie jetzt gramgebeugt vom Schmerz und der Schande, mit der ihre Kinder sie überschütteten, indem sie sie für alles verantwortlich machten. Sie hatten nicht ein freundliches Wort für sie, und die Traurigkeit fraß ihr ganze Stücke aus dem blutenden Herzen.

Und so kam es, dass sie beim Arbeiten sang, um sich zu trösten, während der Wind heulte und Bäume entwurzelte. Sie sang in der kühlen Brise, die den Tag im Morgengrauen küsste und die schlafenden Vögelsanft wachrüttelte, auf dass sie ihren Morgengesang anstimmten. Sie sang im Trommeln des Regens, der heftig nieder strömend nacktes Land mit sich fortriss und zum Meer spülte. Sie sang im lautlosen Nieselregen, der Federn gleich auf die Spitzen der großen Berge der Welt fiel. Und an jenen Orten, die kalt genug waren, sang sie im Regen, der sich in Schnee verwandelte oder in wütend niederprasselnde Hagelkörner.

Singend ließ sie ihre Blicke selbst bei helllichtem Tag über den Himmel schweifen, als gäbe es dort etwas, das ihr helfen könnte. Und wenn sie dann auf ihre Arbeit nieder sah, sang sie noch ein wenig mehr. Manchmal, wenn sie draußen im Wald war oder auf den bewaldeten Ebenen, um Brennholz zu sammeln, sang sie von Wäldern. In manchen von ihnen hatten ihre umherziehenden Kinder gewütet: Sie fällten die Bäume und nahmen ganze Stämme mit, die Jahre gebraucht hatten, um zu wachsen, und zurück blieb eine halbzerstörte, ersterbende Erde.

Die Mutter aller Kinder wusste, dass ihre Kinder achtlos mit der Erde umgingen. Sie gruben Schächte, um nach wertvollen Metallen zu suchen, und ließen klaffende, blutende Wunden zurück. Auf ihrer Wanderung über die Erde sang sie dieses Lied – in kleinen Stücken, manchmal laut, manchmal leise:

Ihr pflügt mich um und eggt mich,

um euern Herzenswunsch zu ernten,

und lasst mich nackt und wund zurück.

Schreckliche Dürren machen mich unfruchtbar,

sintflutartiger regen reißt mir das Fleisch vom Leib,

und jeder spottest mein und spuckt mich an.

Und ich ertrage alles.

Ich, die Mutter, die Lebensspenderin,

behalte nichts für mich zurück.

Ich nähre die Welt, und meine Kinder schauen zu,

wie ich daliege, vergiftet durch ihre Hand.

Weil das Gehör der Kinder nicht auf die Musik der Erde eingestimmt war, schenkten sie ihrem Gesang auch keine Beachtung. Nur manchmal – wenn sie in der Abenddämmerung sang -, manchmal nur legte sich eine Schwere auf die Herzen der Kinder, die früher einmal so freundlich und mitfühlend gewesen waren.

Die Kinder zerstreuten sich immer weiter, und jedes beanspruchte immer mehr Raum für sich. An jedem neuen Tag, der anbrach, stritten sie sich um Bäume. Sie stritten sich um glitzernde Felsen. Sie teilten das Land in Stücke auf und zäunten sie ein.

„Dieser Baum gehört mir“, hieß es hier. “Nein, das ist meiner“, hieß es dort. „Meins, meins“, hieß es überall.

Sie holten die Vögel aus den Wäldern und steckten sie in Käfige, in denen kein Platz zum Fliegen war. Sie holten die Fische aus den Gewässern und steckten sie in Behälter, in denen kein Platz zum Schwimmen war. Sie erlegten die Tiere nur zum Vergnügen und sammelten ihre Köpfe und Felle. Manchmal fingen sie viele Tiere in der Wildnis ein und setzten sie hinter Schloss und Riegel. Sie fällten die Bäume in den Wäldern und entrindeten sie.

Als die Erde ausgelaugt war und die Mutter aller Kinder alt und krank wurde und starb, blieben die Kinder gleichgültig.

Bei ihrem Tod wurde ihr zweiter Wunsch gewährt: ihre sterblichen Überreste in ein schwarzes Gewand zu hüllen und weiterhin ihren Kindern dienen zu dürfen, so gut sie konnte. Und so arbeitete sie selbst im Tode, jeden Tag und jede Nacht, angetan mit ihrem schwarzen Umhang. Jetzt, wo sie keinen Schlaf mehr brauchte, arbeitete sie sogar noch härter. Auch das war den Kindern egal. Sie riefen immer nur wieder: „Gib mir, gib mir, gib mir!“ Sie aber diente ihnen unaufhörlich weiter.

Da sie jetzt nur ein Gespenst war, sagte sie nie etwas. Ihre Lieder waren nur des Nachts und bei Tagesanbruch zu hören, weil der Wind sie in den Tälern und Hügeln fand, wo ihr Echo noch nachklang.

Die Mutter kümmerte sich insbesondere um ein Kind, das in ihren frühen Tagen geboren worden war, aber nicht sprechen konnte. Das Mädchen hatte die schönsten Augen und dunkle, dichte Haare, die zu Zöpfen geflochten und mit Perlen besetzt waren. Im glichen Maße wie ihr Haar wuchs auch ihr Herz. Und so wie ihr Herz wurden auch ihre Beine und Arme stark. Sie reifte zu einer zauberhaften jungen Frau heran.

Eines Tages, als sie gerade ihren Hausarbeiten nachging, hielt sie plötzlich inne und schaute zur Mutter auf. Dann sprach sie zum ersten Mal:

„Lass mich dir helfen, Mutter. Bitte setz dich und ruh dich aus“. Ihre Stimme klang freundlich, und nachdem sie gesprochen hatte, trat eine betäubende Stille ein. Schon allzu lange hatte es keine Freundlichkeit mehr auf dem Planeten gegeben, und jetzt schien – zumindest für einen Augenblick – alles stillzustehen.

Die Mutter stieß einen Seufzer aus. „Oh, danke mein Kind“, sagte sie.

Durch diese eine Freundlichkeit wurde die Mutter erlöst. Sie sackte in sich zusammen und zerfiel zu Staub. Ihr Werk war getan. Ein mächtiger Wind kam, fegte ihren Staub zusammen und wehte ihn in den Himmel, wo er den Mond bildete, den wir heute sehen. Damit aber ging ihr dritter Wunsch in Erfüllung: in ein sanftes Licht gehüllt zu werden, so dass sie ihre Kinder und den grünen und blauen Planeten in jedem Monat des Jahres sehen konnte.

Und bis heute wacht Mutter Mond über ihre streitenden und zankenden Kinder. Sie sieht ihre Töchter, wie sie unter Anleitung der jungen Frau ausbessern und heilen, dienen und bewahren, so wie sie selbst es zuvor getan hatte.

Doch die Kinder der Mondtöchter streiten, zanken und beklagen sich noch immer. Und Mutter Mond, wenn sie dies sieht, muss ihr Antlitz verhüllen und weinen, ehe sieden Anblick ertragen kann, weshalb sie zuerst nur eine Sichel ihres Gesichts zeigt. Dann dreht sie es immer weiter, bis ihr volles Antlitz in Liebe erstrahlt.

In einer solchen Nacht erhaschen manche die Liebe und geben sie weiter. Dann singen die Mondtöchter das Lied von jenen, die sich dem Dienen geweiht haben, und sprechen noch einen Wunsch aus: dass die Kinder wieder lernen mögen, ihre Mutter zu lieben.

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